Kommentar von Bodo Ellmers
Der G7-Gipfel unter britischer Präsidentschaft im südenglischen Cornwall war der erste der Post-Trump-Ära. Damit war er auch ein Test der alten multilateralen Koalition der Großmächte des politisch-kulturellen Westens, die bis zur Gründung der G20 vor etwas mehr als einem Jahrzehnt die internationale Politik bestimmten. Mit der Bekämpfung der Coronakrise und dem Bedarf an „Building Back Better“ waren die Anforderungen an die G7 hoch. Das Abschlussdokument ist ein Rundumschlag über verschiedene Politikfelder und befasst sich – als Novum – auch in zahlreichen Paragrafen mit der außenpolitischen Haltung der G7 zu anderen Nationen, von Russland über China bis Myanmar. Viele Beschlüsse zu zentralen Herausforderungen wie der Impfstoffversorgung oder der Entwicklungsfinanzierung bleiben jedoch vage. Nachhaltige Entwicklung wurde nur am Rande behandelt bzw. hauptsächlich auf seine Klimaaspekte reduziert. Die deutsche G7-Präsidentschaft im kommenden Jahr erbt viele unerledigte Aufgaben.
Das Ende des Impfstoff-Nationalismus?
Viel berechtigte Kritik mussten sich G7 und andere reiche Länder im Vorfeld des G7-Gipfels an ihrem Impfstoffnationalismus anhören. Zwar hatte US-Präsident Biden sich bald nach seinem Amtsantritt publikumswirksam den Forderungen nach vorübergehender Aussetzung des Patentschutzes für Coronaimpfstoffe angeschlossen - die die Europäer bei der WTO bislang abgelehnt haben - doch änderte auch das nichts daran, dass die USA mit Exportstopps und die G7 insgesamt mit ihren Vorbestellungen für eine Impfstoffknappheit im globalen Süden gesorgt haben, die zu einer eklatanten „Impfstoff-Apartheid“ geführt hat.
Auch die Milliardenbeiträge der G7 and die COVAX-Fazilität bringen wenig, wenn es auf dem Markt schlichtweg keine Impfstoffe zu kaufen gibt. Die G7 bekennen sich nun dazu, 870 Millionen Impfstoffdosen direkt zu teilen, was implizit nur bedeutet, dass sie sich auf Kosten anderer Länder über den eigenen Bedarf hinaus damit eingedeckt haben. Ansonsten besteht Unklarheit, was exakt hinter den Zahlen steckt. Der Bedarf im globalen Süden liegt bei über 10 Milliarden Impfdosen, weshalb die G7-Beschlüsse von Cornwall selbst bei großzügiger Interpretation nur ein Tropfen auf den heißen Stein sind.
Ein Durchbruch bei der Unternehmensbesteuerung?
Viel Beachtung hat im Vorfeld des G7-Gipfels auch die Vorvereinbarung der G7-Finanzminister auf ein Abkommen zur Unternehmensbesteuerung erfahren. Bereits seit einigen Jahren wurde im Rahmen des so genannten Inclusive Frameworks bei der OECD über globale Mindeststeuersätze für Unternehmen verhandelt. Damit sollte dem „Unterbietungswettlauf“ bei Steuersätzen ein Ende und Steueroasen der Garaus gemacht werden. Die G7-Staatschef*innen haben sich nun auf einen Mindeststeuersatz von 15% für Unternehmen geeinigt.
Was von den G7 als großer Erfolg verkauft wurde, hat aber durchaus auch Schattenseiten. Der Steuersatz ist nach Ansicht vieler zu niedrig. Selbst Biden hatte noch einen Monat zuvor einen Steuersatz von 20% propagiert, war dann jedoch vor der Unternehmenslobby eingeknickt. Ein Satz von 15% liegt unter den derzeitigen Sätzen vieler Länder, könnte also in diesen erstmal zu einer weiteren Abwertungsrunde führen. Der Internationale Gewerkschaftsbund wies auch schnell darauf hin, dass Arbeitnehmer*innen für gewöhnlich höhere Lohnsteuersätze zahlen, weshalb bei einem Satz von 15% für Unternehmen von Steuergerechtigkeit keine Rede sein könne.
Aus Sicht des globalen Südens ebenso problematisch: Das Modell zur Aufteilung der Besteuerungsrechte, das die G7 propagiert, bevorzugt jene Länder, in denen die großen Konzerne ihre Hauptquartiere haben. Entwicklungsländer hatten gefordert, dass mehr dort besteuert werden kann, wo real die Geschäfte gemacht werden, was ihnen einen größeren Teil des Kuchens eingebracht hätte. Von Watchdogs des globalen Südens wie dem Third World Network wurde die G7-Vereinbarung daher fundamental kritisiert.
Gerechte Lieferketten?
Überraschenderweise befassten sich die G7 beim diesjährigen Gipfel auch intensiv mit dem Thema Lieferketten. Dies parallel zu den heißen Debatten zum Lieferkettengesetz in Deutschland, das am Tag des G7-Gipfels vom Bundestag verabschiedet wurde. Auch die G7 greifen Menschenrechtsaspekte und ökologische Fragen in ihrer politischen Erklärung auf. Dies allerdings in einer Weise, die einer geopolitischen Instrumentalisierung des Themas „supply chains“ Tür und Tor öffnet.
So wenden sich die G7 zwar gegen alle Formen der Zwangsarbeit in globalen Lieferketten, das explizite Hervorheben von „state-sponsored forced labour of vulnerable groups and minorities“ ist allerdings nicht schwer als Seitenhieb auf China zu verstehen. Auch die G7-Vereinbarung, gemeinsam gegen „carbon leakage“ in Lieferketten vorzugehen, zielt zweifellos darauf ab, dass strengere Klimaschutzvorgaben in G7-Ländern nicht zu Wettbewerbsvorteilen für China und andere aufstrebende Entwicklungsländer führen sollen.
Building Back Better?
Klimathemen nehmen im diesjährigen Abschlussdokument viel Platz ein. Nicht überraschend, da die britische Regierung zeitgleich zu ihrem G7-Vorsitz auch den UN-Klimagipfel in Glasgow vorbereitet. Die G7 bekennen sich zu einer umfassenden Dekarbonisierung bei Energie, Transport, Industrie und Wohnen. Drittländern sollen noch dieses Jahr jegliche ODA und Exportfinanzierungsmittel für Kohleenergie gestrichen werden. Weniger konkret sind leider die G7-Beschlüsse dazu, bei der Dekarbonisierung ihre Hausaufgaben zu machen. Darüber hinaus werden alte Beschlüsse zu „Net-Zero“ und Klimafinanzierung bekräftigt. Diesmal auch mit den USA, was im Vergleich zu den letzten vier Jahren sicherlich ein politischer Erfolg ist.
Ansonsten bleibt das Abschlussdokument bei Fragen der nachhaltigen Entwicklung äußerst vage und - trotz seines Umfangs - unambitioniert. Auf die Agenda 2030 wird erst ganz zum Schluss (in Paragraph 63 von 70) hingewiesen, und man hat fast den Eindruck, eher der Höflichkeit halber. Was Finanzierung angeht, betonen die G7 stolz, dass sie selbst 12 Billionen US-Dollar an Konjunkturmaßnahmen aufgebracht haben. Sie bekennen sich auch dazu, die expansive Fiskalpolitik bei sich zuhause zunächst fortzusetzen.
Solidarität oder Konkurrenz bei der Finanzierung?
Weniger konkret sieht es bei der Solidarität für den globalen Süden aus. Der britische Gastgeber hatte sich bereits im Vorlauf den Fauxpas geleistet, sowohl das bilaterale Entwicklungshilfebudget als auch die Beiträge an internationale Organisation massiv zu kürzen. Auch beim Gipfel gab es Enttäuschungen. So wurden jegliche Hoffnungen auf baldige und substantielle Schuldenerlasse für hoch verschuldetet Länder zunichte gemacht. Die G7 begrüßen zwar die Idee, dass der Internationale Währungsfonds neue Sonderziehungsrechte(SZRs) in Höhe von 650 Milliarden US-Dollar an seine Mitgliedsstaaten ausgibt, ein beachtlichen Anteil davon and die G7-Staaten selbst. Sie geben jedoch kein klares Bekenntnis dazu ab, ob, wie und wie viele dieser SZRs, die sie selbst nicht benötigen, an bedürftigere Länder abgeben werden.
Das Menu of Options der Initiative „Financing for Development in the Era of COVID-19 and Beyond”, die vom UN-Generalsekretär zusammen mit Jamaika und G7-Mitglied Kanada vorangetrieben wird, wird vom Gipfeldokument lediglich zur Kenntnis genommen.
Immerhin erkennen die G7 an, dass im globalen Süden erhebliche Lücken bei der Entwicklungsfinanzierung bestehen, und kündigen einen Umschwung bei der Infrastrukturfinanzierung an. Auch hier scheint Konkurrenz das Geschäft zu beleben, denn offensichtlich ist das ein Versuch, der „Belt and Road“-Initiative Chinas einen westlichen Gegenentwurf entgegenzusetzen. Noch braucht China allerdings nicht zu zittern, denn außer der vagen Absicht einer engeren Kooperation der Entwicklungsfinanzierungsinstitutionen der G7 wurde zu der Initiative in Cornwall nichts Substanzielles beschlossen.
Dennoch zeigt die Initiative, dass die G7 zunehmend zur „Anti-Koalition“ wird. Sie wird überwiegend dort aktiv, wo sie ihre Pfründe und ihren Einfluss durch aufstrebende Mächte – insbesondere China – bedroht sieht. Für viele sind die G7 ohnehin ein Anachronismus einer überkommenen „westlichen“ Werte- und Interessengemeinschaft, den man mit der Schaffung der G20 eigentlich überwunden haben wollte. Ohnehin kann sie bei der internationalen Regelsetzung niemals die Legitimität haben, die internationale Organisationen mit universaler Mitgliedschaft wie die Vereinten Nationen haben.
Weiße Männer bald unter sich?
Auch jenseits der nationalen Dimension ist es mit Diversität bei den G7 nicht weit her. Der Begriff Geschlechtergerechtigkeit (gender equity) wird zwar mehrfach im Dokument erwähnt, doch nur an zwei Stellen wird es halbwegs konkret: In Bezug auf gender-based violence will man zunächst Informationen und best practice Ansätze austauschen. Bei der Bildung von Mädchen bekennen sich die G7 immerhin zur zwei neuen Zielen, nämlich durch zusätzliche Finanzierung für die Global Partnership for Education bis 2026 40 Millionen zusätzlichen Mädchen Bildung zu ermöglichen, und 20 Millionen zusätzlich zu alphabetisieren. Viel britisches Geld wird nicht dabei sein, denn unpassenderweise war selbst diese beim Gipfel prominent herausgestellte Partnership von den Kürzungen des Entwicklungsbudgets durch die Johnson-Regierung betroffen.
Fraglich ist, ob der nächste G7-Gipfel unter deutscher Präsidentschaft in 2022 bei Fragen der Geschlechtergerechtigkeit ambitionierter vorgehen wird. Denn, abhängig vom Ausgang der Bundestagswahlen im September, könnte der Gipfel in Cornwall der vorerst letzte G7-Gipfel gewesen sein, bei dem auch eine Frau mit am Verhandlungstisch gesessen hat.