17.06.2020 | DGVN News

Menschenrechtskrise

Ein Weltsolidaritätsgipfel zur Bewältigung der Menschenrechtskrise

Von Karolin Seitz

Die Weltgemeinschaft steuert auf gleich mehrere globale Krisen zu. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Gesundheits- und Wirtschaftskrise, sondern ebenso um eine Menschenrechtskrise. Die Folgen werden besonders für die bereits mehrfach Benachteiligten am schwerwiegendsten sein.

Am sichtbarsten sind die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in Folge der Ausgangssperren und des Rechts auf Gesundheit vieler Menschen ob im Globalen Norden oder Süden. Einige Einschränkungen sind punktuell, andere werden längerfristig spürbar sein. So laufen Millionen Menschen Gefahr, nicht am Coronavirus, sondern in Folge anderer unbehandelter Erkrankungen zu sterben.

Die Einschränkung von Freiheitsrechten wie dem Versammlungsrecht und dem Recht auf freie Meinungsäußerung, sowie die Einschränkung von Persönlichkeitsrechten in Folge von drastischen Überwachungsmaßnahmen in einigen Ländern machen journalistische und Menschenrechtsarbeit und immer schwerer und gefährlicher.

Durch Notstandsgesetze wird in vielen Ländern die parlamentarische und gerichtliche Kontrolle der Regierungen stark begrenzt oder außer Kraft gesetzt und damit das Recht auf politische Teilhabe stark begrenzt.

Auch das Recht auf Nahrung kommt massiv unter Druck. Kurzfristige Auswirkungen sind bereits spürbar durch Versorgungsengpässe in großen Städten und gestiegene Lebensmittelpreise. Das Welternährungsprogramm (WFP) und UNICEF schätzen, dass aufgrund der Schulschließungen mehr als 370 Millionen Kinder keine Schulspeisungen erhalten. Die weltweiten Schulschließungen verletzten auch das Recht jedes Kindes auf Bildung.

Aber auch die Anzeichen für eine längerfristige globale Ernährungskrise häufen sich: Ausfallende Ernten aufgrund eingeschränkter Transport- und Arbeitsmöglichkeiten und der Zusammenbruch ganzer Lieferketten werden langfristig Auswirkungen auf das Ernährungssystem haben. WFP warnt, dass sich die Zahl der Hungernden weltweit bis Ende 2020 auf mehr als eine Viertel Milliarden Menschen verdoppelt.


Mädchen und Frauen mehrfach betroffen

Gerade Frauen und Mädchen sind besonders von den Auswirkungen der multiplen Krise betroffen. Die bestehenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern weltweit treten derzeit deutlicher denn je zu Tage.

Phumzile Mlambo-Ngcuka, Unter-Generalsekretärin der Vereinten Nationen (UN) und Geschäftsführerin von UN Women, wies Ende Mai 2020 darauf hin, dass die globale Pandemie "die Unzulänglichkeiten der öffentlichen und privaten Vorkehrungen offenbart, die derzeit nur funktionieren, wenn Frauen vielfältige und unbezahlte Rollen einnehmen".

Frauen übernehmen weltweit 75 Prozent der unbezahlten Sorgearbeit. Die Schließung von Betreuungseinrichtungen für Kinder und zu pflegende Angehörige erhöht ihre Arbeitslast gerade massiv.

Der Anteil der Frauen in sogenannten systemrelevanten Berufsgruppen ist weltweit überproportional. Als Erzieherinnen in der Kindernotbetreuung, Kassiererinnen bei der Lebensmittelversorgung und als Krankenpflegerinnen halten sie das Funktionieren der Gesellschaft aufrecht und riskieren dabei ihre eigene Gesundheit.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass die Corona-Krise mehr als 25 Millionen Arbeitsplätze kosten könnte. Frauen wird dies besonders treffen, da sie häufig im informellen und Niedriglohnsektor arbeiten, der gekennzeichnet ist von prekären Beschäftigungsverhältnissen, mangelnden sozialen Sicherungssystemen und Arbeitsstandards.

Dies wird gerade im Textilsektor deutlich, in welchem überproportional viele Frauen beschäftigt sind. Aufgrund der Corona-Krise stornieren transnationale Konzerne ihre Bestellungen und die Zulieferer bleiben auf den Produktionskosten sitzen. Allein in Bangladesch sind bereits über eine Million Arbeiterinnen und Arbeiter daraufhin entlassen worden.

Bereits zu Beginn der Corona-Krise und erster Ausgangssperren warnten UN-Menschenrechtsexperten und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor einer Zunahme häuslicher Gewalt. Diese Befürchtungen haben sich leider mittlerweile bestätigt. Betroffen sind insbesondere Frauen und Kinder.


Gefährliche Nebenwirkungen

Ohne Frage müssen die Regierungen Maßnahmen ergreifen, um das Coronavirus einzudämmen und die Bevölkerung vor den gesundheitlichen Gefahren zu schützen. Die Maßnahmen müssen jedoch verhältnismäßig sein und Einschränkungen von Menschen- und Freiheitsrechten müssen auf ihre tatsächliche Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit hin überprüft werden.

Kurzfristig als wirksam erscheinenden Antworten auf die Krise können unbeabsichtigte längerfristige Nebenwirkungen haben. Eine schnelle Entwicklung von Impfstoffen, Testverfahren und Medikamenten gegen Corona sind dringend notwendig. Sind jedoch die von den verschiedenen Ländern nun in hohem Umfang zur Verfügung gestellten Mittel dafür zusätzliches Geld? Oder wird es aus den bestehenden nationalen und globalen Gesundheitstöpfen entnommen, so dass weniger Mittel für besonders für Frauen relevante Basis-Gesundheitsdienstleistungen, wie die medizinische Betreuung von Müttern vor und nach der Geburt, die Bekämpfung nicht-übertragbarer Krankheiten und anderer Infektionskrankheiten wie Malaria zur Verfügung stehen?

Die UN haben in den vergangenen Monaten immer wieder auf die menschenrechtlichen Auswirkungen der Corona-Krise aufmerksam gemacht und Zahlen für weltweite Trends und Gefahren veröffentlicht. Gleichzeitig stellen sie wichtige Handlungsanleitungen zur Verfügung. So hat das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte und der UN-Frauenrechtsausschuss Leitfäden veröffentlicht, die aufzeigen, wie die besondere Rolle von Frauen und Mädchen in den verschiedenen politischen Maßnahmen auf die Corona-Krise und ihrer Folgen berücksichtigt werden können. Die Guiding Principles on Human Rights Impact Assessments of Economic Reforms des UN-Menschenrechtsrats können als Richtschnur dienen, um zu überprüfen, ob wirtschaftspolitische Maßnahmen um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise abzumildern im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen stehen.


Verstärkte Zusammenarbeit dringend notwendig

Für eine kohärente und nachhaltige Antwort auf die multiplen Krisen ist eine verstärkte multilaterale Zusammenarbeit dringend erforderlich. Dabei müssen alle Länder miteinbezogen werden, insbesondere die Länder des Globalen Südens, welche besonders schwer von den Auswirkungen der Corona-Krise betroffen sind. Gespräche und Initiativen zwischen einzelnen Staatenverbünden wie den G7, den G20 oder Multistakeholder-Initiativen der EU, die große Teile der Weltbevölkerung völlig ausschließen, können dabei nur zu Lösungen mit begrenzter Wirkung führen und tragen vielmehr zu einer größeren Fragmentierung der Antworten bei.

Ein Weltsolidaritätsgipfel unter dem Dach der UN, bei welchem eine koordinierte und über die verschiedenen Politikfelder kohärente Antwort gemeinsam von allen Ländern gefunden wird, hätte das Potential, nachhaltig die multiplen Krisen zu bewältigen und zukünftige Krisen vorzubeugen. Der Aufbau sozialer Sicherungssysteme, die Stärkung öffentlicher Gesundheitssysteme und der Schutz von Menschenrechten, insbesondere auch von Frauenrechten, in globalen Wertschöpfungsketten müssen dabei im Zentrum der Antwort stehen.


Die Betroffenen zur Sprache kommen lassen

Damit die getroffenen politischen Maßnahmen tatsächlich auch den am schwersten von der Krise Betroffenen zu Gute kommen und bestehende Ungleichheiten nicht verschärfen, müssen die betroffenen Bevölkerungsgruppen, insbesondere auch Frauen und Mädchen und ihre zivilgesellschaftlichen Vertreterinnen und Vertreter auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung einbezogen werden. Dies gilt auch für die UN, deren wichtige Arbeit gerade auch in Krisenzeiten fortgeführt werden muss. Nun virtuell stattfindende Prozesse müssen jedoch sichere und zugängliche Beteiligungsmöglichkeiten für zivilgesellschaftliche Akteure gewährleisten.

Damit die UN ihrer Rolle als Koordinatorin in der globalen Krisenbewältigung gerecht werden und unabhängig von einzelnen großen staatlichen oder privaten Gebern und deren Agenda agieren kann, müssen ihr von allen Mitgliedstaaten ausreichend und flexibel einsetzbare Mittel zur Verfügung gestellt werden.

 

Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht auf: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V.